Stadtarchiv - Auf Spurensuche in Griesheim
Das Stadtarchiv Griesheim hatte in dieser Woche besonderen Besuch: Die Suche nach den Wurzeln ihrer Familie führte Audrey May aus Memphis, Tennessee/USA, hierher. Nach einem ersten Kontakt im Jahr 2020 zu Heike Jakowski vom hiesigen Stadtarchiv reifte die Idee, gemeinsam mit einer Freundin erstmals Deutschland zu besuchen. Hier im Archiv konnte sie nun die Geburtsurkunden ihrer Ahnen einsehen. Dieser direkte Kontakt mit den Originalen, die persönliche Einsichtnahme, war ein besonders emotionaler Moment für die pensionierte Bibliothekarin.
Mindestens ebenso berührend war ein Treffen mit den heutigen Besitzern des ehemaligen Hauses der Familie. 1937 waren Audreys Großeltern mit ihrem Vater und dessen zwei Schwestern vor der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten nach New York City geflohen. Der Großvater ließ sich dort wieder als Metzger nieder. Cervelatwurst, so erinnert sich die Enkelin, schätzte ihr Vater besonders. Ihr Vater, Werner Theodor May (1924-1994) war zum Studium der Psychologie nach Tennessee gegangen und blieb dort – der Liebe wegen. Am Haus in Griesheim beeindruckte Audrey, wie das im Kern alte Gebäude an unsere modernen Wohnansprüche angepasst werden konnte. Vor dem Haus in der Kreuzgasse erinnern Stolpersteine an die Familie. Und hier konnte Audrey auch Licht in das bislang uns unbekannte Schicksal ihrer Urgroßmutter Lina Levi bringen: Die Spur der alten Dame verliert sich 1938 im italienischen San Remo; Audrey berichtete nun, dass diese 1941 über Italien ebenfalls nach New York gelangt war. Das Buch von Heike Jakowski über die Griesheimer Juden, erschienen 2018, war für Audrey May der Schlüssel zu ihrer Familiengeschichte. Zum Schicksal ihrer Urgroßmutter konnte sie nun das fehlende Puzzleteil hinzufügen.
Ein Höhepunkt der Spurensuche war der Besuch des jüdischen Friedhofs in Groß-Gerau. Der Leiter des Fördervereins für Jüdische Geschichte und Kultur, Pfarrer i.R. Walter Ullrich, begrüßte die Gruppe aus dem Stadtarchiv und erzählte von der langen und erschreckenden Geschichte der Groß-Gerauer Jüdischen Friedhöfe, denn auch vor den Toten hatten die Nationalsozialisten nicht Halt gemacht, sondern ließen den alten Friedhof abräumen, was den jüdischen Glauben an die Totenruhe bis zur Auferstehung missachtet. Unter den vielen Grabsteinen von Griesheimern kamen Audrey manche Namen bekannt vor und sie fand auch die Gräber ihres Urgroßvaters und ihres Ururgroßvaters. Georg Funk wusste auch noch einige Anmerkungen zu Personen zu machen. Auf Audreys Nachfrage erzählte er später, wie er als junger Mann die Nachkriegszeit erlebt hatte. (Aber das ist eine eigene Geschichte.)
Der Besuch in Griesheim wurde durch einen Empfang beim Bürgermeister abgerundet. In einer sehr angeregten Unterhaltung, geführt auf Deutsch und Englisch – je nachdem, welche Redewendung einem gerade einfiel – tauschten die beiden politisch Interessierten sich zum Thema „Flucht und Neubeginn“ aus, denn Griesheim hat sowohl mit St. Stephan als auch mit der aktuellen Flüchtlingssituation eine Geschichte zu erzählen. Schließlich fragte Audrey den Bürgermeister nach seinen Plänen und Visionen für die Zukunft. Er führte die Bereitstellung und Weiterentwicklung der Infrastruktur an, von der Kinderbetreuung bis zum schnellen Internet.
Ein Ehepaar aus der ehemaligen Stolperstein-Gruppe zeigte den amerikanischen Gästen Oppenheim und den Rhein und sie zeigten sich von dem Grün und von der Weite unserer Gegend angenehm überrascht. Die Reise der beiden Damen aus Memphis führt von Griesheim weiter nach Passau und Salzburg. Dort begeben sie sich auf Spurensuche nach der Familie von Audreys Freundin, einst verfolgten evangelischen Christen.